Gaidao 05/18: Wie geht Utopie? – Reproduktionstechnologien zwischen Gegenwart und Zukunft

Im feministischen Science-Fiction Roman „Frau am Abgrund der Zeit“ von Marge Piercy aus dem Jahre 1976 wird eine utopische, befreite Gesellschaft skizziert, in der Babys nicht mehr auf „natürliche“ Weise gezeugt und geboren werden. Stattdessen wächst genetisches Material in einem liebevoll gestalteten „Brüter“ - der auch den pränatalen Bedürfnissen der heranwachsenden Embryos gerecht wird - zu menschlichem Nachwuchs heran. Es fällt schwer, die dort skizzierte Entstehung menschlichen Lebens als die entmenschlichte/ende Retortenbabyfabrik zu  verstehen, die in vielen dystopischen Zukunftsvisionen immer wieder als Schreckgespenst beschworen wird.

Der Roman beschreibt die Begegnung zweier Zeitebenen, wobei die Hauptfigur „Conni“ aus der dystopischen Gegenwart eines New-Yorker Slums stammt. Zwangseingewiesen in eine psychiatrische Anstalt, nimmt eine
Person aus einer (im weitesten Sinne) Öko-Anarchistischen Zukunft Kontakt auf. Die Handlung wechselt im Folgenden zwischen den beiden Zeiten ohne dass eine Person – im Sinne einer Zeitreise – wirklich in die andere wechselt. Es bleibt dabei offen, ob es sich tatsächlich um einen Kontakt zwischen den Zeiten handelt, oder ein
lediglich eskapistischer Wunschtraum der völlig entmündigten Conni ist.

Ein Verhältnis besteht in jedem Fall: Connis Perspektive ist auch die unsere, wenn wir über feministische Utopien nachdenken oder diskutieren. Denn dieses findet immer inmitten einer Verstricktheit in gegenwärtige Verhältnisse  statt – patriarchal, kapitalistisch, nationalstaatlich, kurz: herrschaftlich. Die umkämpfte Auseinandersetzung um Reproduktionstechnologien und vor allem reproduktive Rechte findet – im Sinne des Romans – immer im Dazwischen statt. Im Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Zukunft gilt es bei einer Vorwegnahme des Zukünftigen, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse nicht aus dem Blick zu verlieren. Andersherum können wir gegenwärtig nicht politisch handeln, wenn wir im Jetzt nicht doch die Saat einer anderen, befreiten Gesellschaft ausfindig machen können. In jedem Fall gilt auch das Credo des Romans: dass eine utopische Vision davon lebt, in der Gegenwart erkämpft zu werden – andernfalls wird aus der ermächtigenden Vision doch nur ein  eskapistischer Wunschtraum, wo mit jedem verlorenen Kampf die utopische Zukunft verunmöglicht wird.

Der Themenschwerpunkt „Feministische Utopien und Reproduktionstechnologien“, den sich das Bündnis Pro- Choice Sachsen in diesem Jahr gesetzt hat, bewegt sich in diesem Spannungsfeld: Die Utopie von Reproduktion, die nicht mehr dem „Diktat der Biologie“ unterliegt, muss den existierenden Reproduktionstechnologien und ihren Wirkungen unter gegebenen Verhältnissen gegenübergestellt werden – ebenso wie die Entwicklung dieser Technologien innerhalb der bestehenden Verhältnisse. (Wem nutzen diese Techniken wirklich? Aus welchem
Grund und für wen wurden/werden sie entwickelt? Was sind absehbare Folgen?).

Die zukünftigen technologischen Möglichkeiten menschlicher Fortpflanzung, die Piercy in ihrem utopischen  Roman auf literarische Weise entwirft, haben wir dieses Jahr bei Pro Choice Sachsen politisch und praxisbezogen diskutiert. Nachdem wir nun im fünften Jahr Gegenproteste zu den Schweigemärschen der christlichen Fundamentalist_innen in Annaberg organisieren (siehe März-Ausgabe) und uns intensiv mit den Organisationen und Machenschaften der selbsternannten „Lebensschützer“ beschäftigten (siehe April-Ausgabe), ist nun für uns die Zeit gekommen, gemeinsam in die Zukunft zu schauen und eine emanzipatorische Antwort auf den
urkonservation Rollback der Fundis und Rechten zu formulieren. Denn selbst wenn wir es schaffen, die Verschärfung der Strafgesetzgebung und den politischen wie sozialen Druck der Fundis auf Schwangere
durch unsere Gegenproteste zu verhindern, ist noch lange nicht alles erreicht. Mehr denn je brauchen wir also eine politische Perspektive, die Frauen* aus der alleinigen Verantwortung fürs Kinder kriegen befreit und diese Aufgabe gesamtgesellschaftlich organisiert. Wie solch eine reproduktive Praxis in Zukunft aussehen kann und was
mögliche Fallstricke auf dem Weg dahin sind, haben wir versucht in den folgenden Thesen auszuloten. Dabei formulieren wir sicher keine abschließenden Weisheiten, sondern versuchen uns in bestehenden
Debatten zu orientieren und zum Diskutieren anzuregen!

Die unterschiedlichen Standpunkte diese Debatte betreffend sind nicht neu. Shulamith Firestone (Dialectics of Sex, 1975) hatte die Überwindung der „Natur der Frau“ als Bedingung für ihre Befreiung formuliert – mit allen nur zur Verfügung stehenden Mitteln. Gegenwärtige Queer-Feministische Perspektiven schlagen einen ähnlichen Weg vor, wenn es heißt: Queere Reproduktionspolitik hat sich die technologischen Möglichkeiten anzueignen und das
entfremdende Potenzial von Technologie progressiv hin zu Denaturalisierungsprozessen zu wenden. Die Rede ist dann von der Disaggregation (biol. Auseinandernehmen) von Natur, Geschlecht und Begehren. Konkret bedeutet das z.B., durch Techniken der künstlichen Befruchtung (In Vitro Fertilisation, IVF) den heterosexuellen
Fortpflanzungsprozess zu unterbrechen. Deutlich wird damit vor allem, dass Fortpflanzung ein sozial-natürliches Ereignis ist, was Heterosex, binär-geschlechtliche Körper und Kernfamilie bedeutsam aus dem hegemonialen Zentrum verschieben kann (Dezentralisierung). Für viele Queers war Fortpflanzung noch nie etwas „Natürliches“.
Gegenwärtig werden ihnen auch die vorhandenen technologischen Möglichkeiten versperrt, da sie nicht in das Schema reproduktiver Staatsbürgerschaftssubjekte passen und somit nur einen erschwerten Zugang zu IVF haben. Reproduktionstechnologie queer anzueignen bedeutet dann vor allem: Technologie nicht nur zur Behebung von Mängeln, Defiziten und Krankheiten (bzw. das, was medizinischer und gesellschaftlicher Diskurs zu solchen erklärt) zu nutzen, sondern sie darüber hinaus als Erweiterung zu verstehen.

Firestone wurde aber schon zu ihrer Zeit von anderen Feminist*innen stark kritisiert. Ihrem Technologie- und Fortschrittsoptimismus wurde entgegengehalten, dass die Wissenschaft für Frauen* oft nur Exklusion und Kontrolle von Körpern bedeutet – warum sollten ausgerechnet hier ein progressiver Prozess angestossen werden?

An anderer Stelle wird das emanzipative Potenzial von technologischem Einsatz in der Reproduktion ebenfalls sehr kontrovers diskutiert. Mit diversen Diagnoseverfahren – vor allem Pränataldisgnostik und  Präimplantationsdiagnostik – verbinden sich Vorstellungen von Autonomie und Selbstbestimmtheit, die von vielen Feminist*innen deshalb als relevante Option genannt werden. Wie sehr hier aber eigentlich ein bevölkerungspolitischer Anspruch in Verbindung mit wissenschaftlich-technologischen Mitteln an ganz anderen Dingen arbeitet als an der Befreiung von Frauen* kann schnell deutlich gemacht werden. So schreibt Andrea Trumann von „individualisierter Eugenik“ und meint damit, dass die Entscheidung gebärfähiger Menschen, eine Abtreibung bei festgestellter Behinderung vorzunehmen, individualisiert worden ist. Eugenische Praxis wird demnach nicht mehr von einem Staat autoritär angeordnet, sondern mittels medizinischer Untersuchungen provoziert, die die Entscheidung der Schwangeren entsprechend beeinflussen. Nichtsdestotrotz gilt es, was
eine feministische Debatte um Abtreibung betrifft, die Position von Frauen* nicht aus dem Blick zu verlieren. Moralisierende Kritik an der Entscheidung einzelner Schwangerer aufgrund einer festgestellten Behinderung abzutreiben setzt auf eben jenem individualisierenden Diskurs auf und verkennt die mitunter erheblichen  ökonomischen Risiken, die auf Frauen* warten, selbst wenn das erwartete Kind keine körperlichen oder geistigen Einschränkungen hat.

Im Roman ist Conni von den Reproduktionsmethoden jener zukünftigen Zeit abgestoßen und fühlt sich in ihrer Würde als Frau verletzt, die ihren Selbstwert aus ihrer Opferbereitschaft zieht: „Wie kann ein Mann wohl Mutter sein! Wie kann irgendein Kind, mit dem du nicht verwandt bist, dein Kind sein!“ Sie ist wütend, weil man ihr die –
wie sie glaubt – einzige Macht, über die sie je verfügte, streitig machen will: ihre Gebärfähigkeit. Vielleicht sind uns
diese Vorstellungen und Gefühle fremd. Dennoch verdeutlichen sie, wie schrecklich Freiheit – aus einer unfreien Perspektive heraus betrachtet – erscheinen kann. Ebenso zeigt sich, wie schmerzhaft es gerade für die fast machtlosen sein kann, ihr Quäntchen Macht aufzugeben „im Austausch für keine Macht für niemand.“ Die
Frage nach der Utopie kann somit nie abschließend beantwortet, sondern immer nur neu gestellt werden.

* Wenn wir von Frauen* reden, meinen wir damit überwiegend die Menschen, die gesellschaftlich dazu gemacht werden. Zu bedenken ist auch, dass nicht alle gebärfähigen Menschen Frauen sind.

Auch in der Gǎidào Nr 89 Mai 2018 nachzulesen